Einblicke

«Jetzt siehst Du nur noch die Hälfte dieser Welt.»

Portrait

Marlise Ritter

... denkt Marlise Ritter, nachdem sie erfährt, dass ihr Hirntumor den Sehnerv gekappt und sie eine Hemianopsie erlitten hat. Auf beiden Augen fällt die linke Hälfte des Gesichtsfeldes weg – eine drastische Einschränkung des Sehvermögens. Der anderen Hälfte der Welt nicht stündlich nachzutrauern, ist tägliche Herausforderung für die beruflich bei Visana arbeitende Mitarbeiterin am Kundenempfang.

Es ist ein Freitag im Sommer. Ein Tag vor ihrem 55. Geburtstag begleitet ein Kollege Marlise in den Notfall im Inselspital Bern. Seit Tagen leidet die Sekretärin unter anhaltenden Kopfschmerzen. Das stundenlange Warten im Notfallzentrum bleibt unbelohnt: Sie wird mit Kopfwehtabletten wieder nach Hause geschickt. Drei Tage später steht sie wieder dort. Die Kopfschmerzen gingen nicht annähernd weg. Das erstaunt nicht, denn als die Ärzte ein MRI (Magnetic Resonance Imaging) durchführen, entdecken sie das Problem: ein Hirntumor.

Auf Schock eins folgt Schock zwei

Für Marlise ist es traumatisch, als sie erfährt, sie habe einen Hirntumor. «Mir wurde der Stecker gezogen», beschreibt, wie sie sich nach dieser Diagnose fühlt. Ihr Begleiter rief vom Notfall aus Tochter Linda an, die rechtzeitig zum Gespräch mit dem Arzt da ist und diesen schweren Moment miterlebt. Diesmal wird Marlise nicht wieder nach Hause geschickt. Zwei Tage später wird ihr in einer siebenstündigen Marathon-Operation der Hirntumor entfernt.
Der Sehnerv war, so vermuten die Spezialisten, schon vorher verletzt. Marlise Ritter schildert auch, dass sie bereits vor der Operation visuell Mühe hatte, beim Laufen wankte und auch nicht mehr Autofahren konnte. Nach der OP folgt das Schockerlebnis Nummer Zwei. Die Verletzung des Sehnervs führte zu einer homonymen Hemianopsie. Bei beiden Augen fällt die linke Seite des Gesichtsfeldes weg. Dies hat grosse Auswirkungen auf jeden Lebensbereich der Bernerin.

Die Wochen nach diesen aufwühlenden Ereignissen sind wie weggefegt. «Irgendwo in meinem Unterbewusstsein ist sicher abgespeichert, was ich erlebt habe – doch irgendwie will ich es gar nicht sehen» sagt Marlise. Mit der dreiwöchigen Rehabilitation soll die Motorik wieder verbessert werden. Und tatsächlich: Marlise stellt fest, dass sie im Gehen wieder sicherer geworden ist. Zurück im Alltag und fernab des geschützten Rahmens in der Reha, fällt ihr das Dach auf den Kopf und zurück sind die Ängste, wie sie das Leben mit dieser Sehbehinderung meistern – wie sie das alles schaffen soll. Die zuständige IV-Verantwortliche rät ihr, bei der SIBU, der Schweizerischen Fachstelle für Sehbehinderte im beruflichen Umfeld, ein Assessment zu machen.

«Jetzt denke ich fast jede Stunde daran, dass ich diese Sehbehinderung habe. Es wär schön, wenn diese eines Tages einfach zu mir gehören würde.»

Schrittweise Rückkehr ins Berufsleben

Beim Assessment in Basel klären die Fachleute von der SIBU die visuelle Situation von Marlise ab und überlegen sich, mit welchen Massnahmen die Sekretärin beruflich wieder integriert werden kann. Die Wahl des richtigen Weges wird begünstigt, weil die Visana als Arbeitgeberin und das ganze Empfangs-Team hinter Marlise stehen, sie behalten wollen. Nachdem die langjährige Mitarbeiterin einige Monate komplett ausgefallen war, wird versuchsweise das ‹therapeutische Arbeiten› ausprobiert. So kann sich Marlise wieder mit ihrem Arbeitsplatz vertraut machen und sich an die neue visuelle Realität anpassen. «Ich stellte rasch fest, dass ich meine Arbeit verinnerlicht habe. Es wurde mir klar, dass ich meinen Job auch mit dem visuellen Handicap ausüben kann.» Die vorerst drei Stunden pro Woche werden schrittweise ausgebaut. Heute arbeitet Marlise wieder vier Tage zu je vier Stunden, was 40 % entspricht. Ein weiterer Ausbau auf 50 % sollte – ist ihr Vorgesetzter Daniel Knuchel überzeugt – machbar sein.

Mühe bereitet der 56-jährigen das binokulare Sehen ihrer Augen. Das bedeutet, dass ihre Augen synchron immer das Gleiche tun. Die fehlende Hälfte des Gesichtsfeldes führt dazu, dass sie beim Essen die Speisen links von ihr auf dem Teller gar nicht sieht. Und auch das Auffinden von Gegenständen, z. B. auf dem Bürotisch, braucht länger Zeit und sie stösst sich manchmal an Möbelstücken, weil ihr Gesichtsfeld links komplett ausfällt. Noch heute ist sie in psychologischer Beratung, Medikamente stabilisieren ihre Psyche. Seit die Katze Mia bei ihr ist und sie begrüsst, wenn sie nach Hause kommt, geht es aufwärts mit ihr. «Ich bin seelisch stabiler geworden, seit Mia bei mir ist.»
 

Visuelle Situation noch in Abklärung

Steinig war ihr Weg zu einer Brille, die ihre visuelle Situation verbessern kann. Die ersten, vom Optiker angefertigten Modelle waren allesamt nicht nützlich; doch die vierte Brille, die aufgrund von Messungen in der Abteilung Orthoptik des Inselspitals vom Optiker angefertigt wird, verbessert ihre visuelle Situation spürbar. Sie geht jetzt wieder etwas sicherer und auch im Arbeitsumfeld bemerkt sie eine kleine Veränderung zum Guten. Sie ist sehr dankbar, dass Margaretha Glauser, Beraterin für sehbehindertentechnische Unterstützung der SIBU, sie begleitet und unterstützt. Das kann eine Begleitung an einen wichtigen Termin im Inselspital sein, ein Besuch am Arbeitsplatz, ein menschliches Ohr und ein verständnisvolles Mitdenken. Ein Arbeitskollege von Margaretha, Martin McCombie, IT-Spezialist, bringt Marlise Ritter die geläufigsten Tastenkombinationen am Computer bei, mit denen sie vermeiden kann, zu oft mit der Maus, d. h. visuell zu arbeiten.

Erst kurze Zeit ist es her, dass sie durch diesen Schicksalsschlag das Leben mit neuen Augen sehen muss. Noch immer läuft sie ab und zu in Menschen, weil sie links von ihr nichts sieht. Vieles ist tägliche Herausforderung für sie, schminken und kochen zum Beispiel. Es braucht Zeit, für all diese täglichen Abläufe Strategien zu entwickeln, um mit dem visuellen Handicap umzugehen. Marlise macht dies sehr gut. Das attestieren ihr auch die Arbeitskollegen oder Margaretha Glauser, die viel Erfahrung im Umgang mit sehbehinderten Menschen mitbringt.

Ihre Augen wurden erneut untersucht. Die Hemianopsie ist nicht schlechter geworden, die visuelle Situation scheint sich auf diesem Niveau zu stabilisieren. Nun braucht es einfach Zeit und Übung, um weiter an Sicherheit im Umgang mit dem neuen Blickfeld zu gewinnen. Lichtblicke sind für sie geliebte Menschen, ihre Tochter zum Beispiel, Freunde, Bekannte und Nachbarn, die ihr nahe stehen und auch Fortschritte, die sie macht. Erstmals seit langer Zeit hat sie sich sogar wieder an die Lektüre eines Buches gewagt: «Dem Leben so nah wie nie zuvor – Wie der Tumor mich stärker machte». Der Titel des autobiographischen Werkes von Tanja Gutmann soll auch für die 56jährige Marlise zum Motto für ihren weiteren Weg werden – dem Leben so nah zu sein, wie nie zuvor.

Margaretha Glauser, Beraterin für sehbehindertentechnische Unterstützung der SIBU, begleitet Marlise Ritter zu einem Termin.

Hintergrund

Gesichtsfeldausfall nach Hirnverletzung

Unter Hemianopsie verstehen wir einen Gesichtsfeldausfall, der durch eine Sehbahnschädigung hervorgerufen wird. Die Sehbahn durchzieht das ganze Gehirn. Sie beginnt an der Papille der Netzhaut und reicht bis zum hinteren Hirnpol (Okzipitallappen).

Jeder beliebige Punkt der Sehbahn kann durch eine Verletzung teilweise oder ganz beschädigt werden. Schädigungen der Sehbahn können zu unterschiedlichen Gesichtsfeldausfällen führen. Die häufigste Form ist die homonyme Hemianopsie.

◐ ◐ homonym = gleichseitig Hemianopsie = Halbseitenblindheit Ausfall einer Hälfte des Gesichtsfeldes. Es sind immer beide Augen betroffen.

Ursachen für eine homonyme Hemianopsie (Halbseitenblindheit) sind Hirnblutungen, Minderdurchblutungen des Hirnes, Schlaganfälle, Hirninfarkte, Tumore, Schädel-Hirn-Traumen oder Entzündungen bzw. Degenerationen.
 

Gesichtsfeldausfälle schränken das Blickfeld ein

Das Gesichtsfeld ist der Raum, in dem ohne Kopf- und Augenbewegung visuelle Stimuli noch wahrgenommen werden (ca. 140 – 160°). Das Blickfeld ist der Teil des Raumes, der bei ruhiger Kopfhaltung mit Hilfe der Augenbewegungen gut gesehen wird. Die Makula kann bei einer Hemianopsie entweder mitbetroffen oder ausgespart sein. Ist sie mitbetroffen, ist oft die Fixation gestört. Dies hat wesentliche Auswirkungen auf die Rehabilitation. Weiter kann bei einem Gesichtsfeldausfall auch die räumliche Orientierung und die Mobilität, z. B. im Strassenverkehr, eingeschränkt sein.

Das betroffene Gesichtsfeld weist in der Regel keine Sehschärfe mehr auf (blind). Genau genommen sieht eine Person mit einer Hemianopsie alles. Das Bild wird auf der Netzhaut abgebildet. Da aber irgendwo ein ‹Leitungsunterbruch› in der Sehbahn besteht, werden nicht mehr alle Informationen weitergeleitet. Dadurch ergibt sich kein Vollbild mehr.
Die Gesichtsfeldausfälle werden nach frischen Hirnläsionen durch die Patientin nicht als solche wahrgenommen, da die visuelle Exploration gestört ist. Die visuelle Exploration ist das aktive Absuchen unserer Umwelt durch Augen- und Kopfbewegungen. Aufgrund dieser pathologisch veränderten Suchbewegungen mit den Augen stossen solche Patientinnen und Patienten öfters an Objekte, finden Gegenstände auf der hemianopen Seite nicht (die Seite, die vom Gesichtsfeldausfall betroffen ist). Zudem können sie Leseschwierigkeiten aufweisen, da die Orientierung auf dem Lesegut fehlt.
 

Hemianopsie-Kompensationstraining mindert die Auswirkungen

Mit einem Kompensationstraining können Alltagssituation und Lebensqualität bei Hemianopsie-Betroffenen verbessert werden. Ein visuelles Kompensations-Training kann die Auswirkungen im Alltag verringern.

Es sind dies vor allem:

  • Anstossen an Objekte: Betroffene übersehen Objekte oder laufen in eine Verkehrstafel auf dem Trottoir.
  • Nicht Auffinden von Gegenständen: Sie finden Gegenstände in einem Regal oder auf dem Tisch nicht sofort und müssen sie suchen.
  • Lese- und Schreibschwierigkeiten: Geht die Lesefähigkeit verloren, ist dies ein grosser Verlust der Lebensqualität. Deshalb ist es wichtig, bei einer Hemianopsie ein gezieltes Lese- und Schreibtraining durchzuführen.

Bei der SIBU beinhaltet das Lesetraining entsprechende Sehhilfen und ein individuelles Sehtraining zum Erhalten bzw. Rückgewinnen der Lesefähigkeit.

Interview

«Wir halten zu unseren Mitarbeitenden – in guten wie auch in schlechten Zeiten.»

Marlise Ritter, seit gut zehn Jahren bei Visana beschäftigt, durfte nach ihrem Sehverlust darauf zählen, dass ihre Arbeitgeberin zu ihr hält. Der Vorgesetzte, Daniel Knuchel, sein Vorgänger sowie das ganze Team standen jederzeit hinter Marlise. Wir wollten wissen, was die Beweggründe waren.

Herr Knuchel, nach der Diagnose Hirntumor fiel ihre Mitarbeiterin von einem Tag auf den anderen aus. Wie hat das ganze Team dieses menschliche Schicksal und den Ausfall von Marlise Ritter verkraftet?
Danke für die Frage, denn Schicksalsschläge treffen auch das Umfeld. Die damalige Führungsperson und die Teamkolleginnen haben souverän und flexibel reagiert. Schnell konnte das Team durch eine erfahrene Visana Mitarbeiterin verstärkt werden. Die Kolleginnen haben ihre Arbeitszeiten den Umständen angepasst und ihre Arbeitspensen bei Bedarf aufgestockt.

Sie haben Ihrer Mitarbeiterin den Rücken gestärkt. Mussten Sie dafür kämpfen, ihr die Stelle freizuhalten?
Nein. Visana nimmt ihre Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitenden wahr.

Was sind die Beweggründe?
Wie jedes Unternehmen denken und handeln auch wir betriebswirtschaftlich. Wir setzen auf motivierte, loyale Mitarbeitende mit hoher Leistungsbereitschaft. Während vieler Jahre konnten wir auf Marlise zählen. Nun kämpft Marlise gegen die Auswirkungen ihrer Krankheit. Tag für Tag ist sie bestrebt, ihre Leistung in kleinen Schritten zu steigern. Das erkennen und schätzen wir und deshalb kann Marlise jetzt auch auf uns zählen. Dabei ist zu erwähnen, dass die Tätigkeit am Kundenempfang die Rahmenbedingungen erfüllt und auch für ein kleineres Arbeitspensum geeignet ist. Ein Glücksfall.

Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit den Fachleuten der SIBU?
Kollegial und zielführend. Ohne ihre Unterstützung würden wir heute nicht dastehen, wo wir sind. Einerseits haben die Fachleute Marlise in vielerlei Hinsicht unterstützt. Gemeinsam konnten Teilerfolge erzielt werden. Aus diesen hat Marlise Kraft geschöpft. Andererseits wurden wir beraten, wie der Arbeitsplatz optimiert und auf die Bedürfnisse von Marlise ausgerichtet werden kann. Die Investitionen hierfür sind kaum erwähnenswert. Zudem konnten auch die übrigen Teamkolleginnen von den neuen Spezialbildschirmen profitieren.
Bei dieser Gelegenheit danke ich auch der IV, die die Massnahmen der Sehbehindertenhilfe Basel finanziell unterstützt.

Welche Botschaft haben Sie an andere Arbeitgeber, die sich bisher nicht trauten, einer sehbehinderten Person eine Chance zu geben?
Unternehmen, die langfristig erfolgreich sind, zählen auf loyale Mitarbeitende. Die Basis für Loyalität sind gegenseitiges Vertrauen und Commitment. Der Nährboden hierfür muss von den Führungspersonen bewirtschaftet werden. Nehmen wir als Arbeitgeber unsere Verantwortung wahr! Das Krankheitsbild scheint mir dabei sekundär.
 

Fotos: Michael Fritschi