Portrait
Sascha Feldmann
Sascha Feldmann liebt Tempo, von 0 auf 100, das ist sein Motto. Doch aufgrund einer erblich bedingten Sehbehinderung (LHON) baute sich sein Sehvermögen innerhalb eines Jahres von 100 auf 1 ab. Das zwingt ihn, in gewissen Lebensbereichen ein gemütlicheres Tempo zu gehen. Der gelernte Koch, der sich infolge Sehverlustes beruflich neu orientieren musste, macht dies mit positiver Energie.
«Männer gestehen sich Schmerz und Schwäche ungerne ein», sagt Sascha Feldmann. «So habe auch ich meine visuelle Situation lange nicht bemerkt. Zwar fiel mein zentrales Sehen zunehmend aus, doch mit meiner Routine ist mir dies lange nicht richtig aufgefallen, da ich für viele Arbeitsabläufe gar nicht hinschauen musste», so der gelernte Koch. Und mit seinem ausgeprägten Orientierungssinn kann er den Sehverlust recht gut kompensieren. Doch als er mit seinen Eltern in Thailand in den Ferien ist, in einer neuen Umgebung, fällt ihm schliesslich auf, dass etwas nicht mehr stimmen kann. Am fremden Ort hat er doch etwas Mühe mit der Orientierung, zudem kann er grün und rot nicht mehr unterscheiden. Da weiss er, jetzt muss er zum Augenarzt.
Vom Koch zum Kaufmann
Alleine fliegt er in die Schweiz zurück und organisiert sich in Kürze einen Termin beim Augenarzt. Dieser stellt ihn vor vollendete Tatsachen: Er hat eine Lebersche Optikusneuropathie (LHON), eine erblich bedingte Erkrankung des Sehnervs. Diese hat ihm innert eines Jahres fast sein ganzes Sehvermögen geraubt. Bei der Abschlussprüfung wird die Situation für Sascha Feldmann dramatisch: Als er Rezepte ausdrucken will, klebt er mit den Augen am Bildschirm, den Kopf zur Seite gedreht. «Es ging echt nicht mehr, ich habe fast nichts mehr gesehen», schildert der heutige KV-Lehrling das damalige Fiasko. Die heute pensionierte Christina Fasser von Retina Suisse setzte sich sehr für ihn ein, damit er trotz verpasster theoretischer Prüfung letztlich doch sein Kochdiplom in der Hand hielt. Die Begründung: Sascha habe während der ganzen Kochlehre konstant so gute Leistungen erzielt, dass es auf der Hand lag, dass er die Prüfung bestanden hätte.
«Was Du denkst und fühlst hat grossen Einfluss auf deinen Alltag» schildert Sascha seine Einstellung, die ihn durchs Leben trägt. Dass ihn die IV nach Basel schickte zur SIBU, der Schweizerischen Fachstelle für Sehbehinderte im beruflichen Umfeld, stiess bei ihm erst auf Widerstand. Doch er gewöhnt sich rasch ein; in nur einer Woche erlernt er das 10-Finger-System, ein Grundstein für alle, die einen kaufmännischen Weg einschlagen. Rasch findet er Anschluss unter den anderen Sehbehinderten. Während fünf Quartalen erlernt er zudem das Programm Jaws, das die Informationsaufnahme und Verarbeitung übers Gehör ermöglicht. Denn eines ist klar: mit dem geringen Sehrest ist er darauf angewiesen.
Guter Rückhalt
Seine Familie charakterisiert der 22-jährige als lichtvoll, fröhlich und weise. So seien seine Eltern auch mit der Situation der Sehbehinderung ihres Sohnes umgegangen. «Sie haben es einfach so angenommen, wie es ist, und weitergemacht wie bisher.» Sein Grossvater ist für alles Buchhalterische zuständig, die Grossmutter steht mit Massage- und Reiki-Behandlungen zur Seite, sein Cousin sucht ihm auf telefonische Anfrage die passende Zugverbindung hervor.
Bei seinen Kollegen spielt er mit offenen Karten und erzählt, was Sache ist. Er betont, er wolle selbstständig bleiben, müsse aber wohl ab und zu um Hilfe bitten. Das tut er, wenn es nötig ist und er hat gelernt, dass es okay ist, Hilfe anzunehmen.
«Mein Sehvermögen nahm innerhalb eines Jahres von 100 auf 1 ab; dank meines guten Orientierungssinns kann ich mich trotzdem noch recht gut orientieren.»
Das KV, ein Kraftakt
Es sei nicht normal, was er in der Wirtschafts- und Kaderschule KV Bern WKS, wo er den KV-Unterricht hat, leisten müsse. «Es fordert mir alles ab. Wenn Du mit dem Tempo der Sehenden mithalten musst, z. B. indem Du in einem 800-seitigen Gesetzbuch einen Gesetzesartikel finden musst, dann ist das happig.» Der Unterricht im Fach IKA (Information, Kommunikation, Administration) wurde für ihn anders organisiert. IT-Spezialist und Ausbildner der SIBU, Martin McCombie vermittelt ihm und seinem Klassenkollegen Marco Princic, ebenfalls sehbehindert, den Stoff auf eine Art und Weise, dass die beiden Schüler ihr visuelles Handicap mit sehbehindertentechnischen Methoden und Hilfsmitteln kompensieren können. Sascha schwärmt von dieser Lösung. «Es ist einfach genial, wie Herr McCombie uns gleichzeitig fordert und fördert. Mit seiner menschlichen Art und seiner Methodenkompetenz findet er immer den richtigen Ton und motiviert uns, dranzubleiben.» Und auch für seine Beraterin für sehbehindertentechnische Unterstützung, Margaretha Glauser (siehe Interview), findet der KV-Lehrling nur lobende Worte. Sie sei eine coole Frau, gebe immer 150 % und setze sich voll für ihn ein.
Obschon ihn seine Sehbehinderung gebremst hat, er sich im Leben neu orientieren musste und immer noch muss: bei all der positiven Einstellung, die er an den Tag legt, dem positiven Umfeld, das er hat und der gezielten Unterstützung, die er von den SIBU-Mitarbeitenden erhält, besteht kein Zweifel daran, dass Sascha auch seine zweite Lehre mit Erfolg abschliessen und seinen weiteren Berufsweg gehen wird.
Im SIBU-Unterricht, Fach IKA (Information, Kommunikation, Administration) mit Martin McCombie.
Hintergrund
Die Lebersche Optikusneuropathie (LHON)
Die hereditäre Lebersche Optikusneuropathie (LHON) ist eine erblich bedingte Erkrankung des Sehnervs, bei der es zu einer sogenannten Atrophie (Schwund, Degeneration der Sehnervenfasern) kommt. Die LHON wird nicht wie viele andere Erbkrankheiten über die genetische Information des Zellkerns vererbt, sondern über die genetische Information der Mitochondrien im Zellplasma (sogenanntes mitochondriales Genom) und tritt vor allem bei Männern zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr auf.
In wenigen Fällen können auch Frauen und Kinder an dieser Erkrankung des Sehnervs leiden. Das Verhältnis von erkrankten Männern zu erkrankten Frauen beträgt nach grösseren Studien etwa 5 : 1. die Lebersche Optikusneuropathie äussert sich vor allem in einer deutlichen Reduktion der Sehschärfe und einem Ausfall des zentralen Gesichtsfeldes (Zentralskotom).
Für den Betroffenen erkennbare Veränderungen
Zu Beginn der Erkrankung wird der Betroffene zunächst eine verminderte Farbempfindung für Rot und Grün bemerken. Man nennt dies ein ‹zentrales Farbskotom› für Rot und Grün. Danach wird sich eine Herabsetzung der Sehschärfe einstellen. Im Alltag wird der Betroffene jetzt vermehrt Schwierigkeiten haben, Details zu erkennen, die er gerade betrachten möchte. Typisch ist, dass er kleingedruckte Schriften nicht mehr fliessend lesen kann. Bei weiterem Fortschreiten der Erkrankung werden auch grossgedruckte Buchstaben nicht mehr problemlos zu entziffern sein. Bedingt ist diese Herabsetzung der Sehschärfe und die sich daraus ergebenden Störungen durch den Ausfall bestimmter Sehelemente im Zentrum des Gesichtsfeldes.
Es entsteht dort ein Gesichtsfeldausfall, den man Zentralskotom nennt. Der Betroffene ist deshalb gezwungen, mit peripher liegenden Gesichtsfeldanteilen zu sehen, die ein geringeres Auflösungsvermögen und ein nur schlechtes bis kein Farbunterscheidungsvermögen haben. Für den Aussenstehenden sieht das dann so aus, als ob der Betroffene an dem, was er genau anschauen möchte, ‹vorbeisieht›.
In den meisten Fällen erkrankt zunächst ein Auge, fast immer wird binnen zwei Jahren auch das zweite Auge befallen. Es gibt allerdings auch Betroffene, bei denen über Nacht die Sehschärfe beider Augen hochgradig gemindert ist. Üblicherweise dauert es einige Wochen bis Monate, bis sich die Sehschärfe auf einem niedrigen Niveau einpendelt und in den allermeisten Fällen auch nicht mehr bessert. Diese erreichte Endsehschärfe kann individuell recht unterschiedlich sein.
Interview
«Wir wissen Bescheid, wie es Sascha geht und wie er seine Sehbehinderung erlebt.»
Margaretha Glauser ist bestens vernetzt im Blindenwesen. Früher als Lehrerin und im Ambulanten Dienst für die Blindenschule Zollikofen tätig, ist sie heute für die SIBU unterwegs. Als Beraterin für sehbehindertentechnische Unterstützung begleitet sie sehbehinderte Berufsleute auf ihrem Weg, beruflich wieder Fuss zu fassen bzw. ihre Ausbildung mit Erfolg abzuschliessen. Wir befragten sie zu Sascha Feldmann, der eine KV-Lehre absolviert.
Margaretha, Sascha Feldmann konnte seinen Wunschberuf Koch aufgrund seiner genetisch vererbten Sehbehinderung (LHON, siehe Fachtext) gar nie ausüben. Wie gelingt es ihm, mit diesem Schicksalsschlag umzugehen?
Sascha kommuniziert sehr offen. Er versteckt nichts. So wissen wir immer Bescheid, wie es ihm geht und wie er seine Sehbehinderung erlebt. Meistens akzeptiert er seine Situation gut. Und wenn er mal eine Krise hat, ist diese rasch wieder vorbei. Seine grosse Stärke ist die Sozialkompetenz. Sein feinfühliges Wesen verbirgt er unter einer Schutzschicht der Coolness, doch das ist für junge Erwachsene in seinem Alter ja nicht ungewöhnlich.
Sascha musste ein neues Berufsfeld wählen. Da am Computer viele Möglichkeiten für erblindende Menschen bestehen, absolviert er jetzt die WKS in Bern (KV). Wie macht er sich dabei?
Was mich beeindruckt ist sein Durchhaltewillen. Er ist sehr ehrgeizig und es hat mich positiv überrascht, mit welcher Motivation er seine Ausbildung angeht. Speziell erwähnenswert ist bei der KV-Lösung auch, dass wir gut mit den anderen involvierten Organisationen des Sehbehindertenwesens zusammenarbeiten. Dafür brauchte es als Starthilfe einen runden Tisch mit allen Beteiligten. So konnte die heutige Lösung erzielt werden.
Und wie sieht diese aus?
Sascha Feldmann absolviert in der WKS Bern das KV. Die Lehrstelle hat er beim SBV (Schweizerischer Blindenverband) und er wohnt in der Aussenwohngruppe der Blindenschule in Zollikofen.
Wie können wir uns diese Aussenwohngruppe vorstellen? Was ist das Ziel, Sascha Feldmann dort unterzubringen?
Das Ziel ist, das selbstständige Wohnen und die Selbstorganisation des Alltages von Blinden und Sehbehinderten zu fördern. Selbstständiges Wohnen und auch das Verrichten von Haushaltsarbeiten sind bei dieser Wohnform im Vordergrund. Die Betreuung ist recht eng. Es ist immer ein Sozialpädagoge, eine Sozialpädagogin in der Wohngruppe präsent, auch nachts. Einmal pro Woche kocht jeder Bewohner für die ganze Wohngruppe, was natürlich beim gelernten Koch Sascha oft ein besonderer Gaumenschmaus ist.
Was sind die Herausforderungen, denen sich der junge KV-Absolvent mit seiner Sehbehinderung gegenübersieht?
Die grosse Herausforderung ist, dass er sehr viel mehr leisten muss, als seine Klassenkameraden. Sein Pensum ist enorm hoch. Er muss sich immer darum kümmern, dass er das Schulmaterial von den Lehrpersonen frühzeitig erhält und dass seine Hilfsmittel funktionieren. Dazu muss er den Semesterplan im Voraus studieren und gut vorausdenken, was er bis wann benötigen wird ...
... das tönt sehr anspruchsvoll. Wie wird er dabei von Dir unterstützt?
Meine Aufgabe ist es, mögliche Stolpersteine frühzeitig zu erkennen. Natürlich habe ich Sascha Feldmann darauf hingewiesen, dass dieses Vorausschauen und Planen sehr wichtig ist. Das Schulfach IKA (Information, Kommunikation, Administration) konnte aus dem Schulunterricht ausgelagert werden. Da die Schüler in diesem Fach fast ausschliesslich mit der Maus arbeiten, konnten wir bewirken, dass er und sein ebenfalls sehbehinderter Kollege Marco Princic sehbehindertengerecht von unserem IT-Spezialisten und Ausbildner Martin McCombie geschult werden. Auch erhielt Sascha nach einer Französisch-Baisse Stützunterricht von unserer Französischlehrerin.
Welche Aufgaben nimmst Du ausserdem wahr?
Ich pflege einen guten Kontakt mit allen Beteiligten. Das beginnt oft schon vor Beginn eines neuen Schuljahres und ist am intensivsten, wenn die Schulzeit begonnen hat. Ich schaue, wann ich mit einer Lehrperson einen Pausenkaffee trinken und den Austausch pflegen kann. Zudem sitze ich in Lektionen rein und beobachte, wie der Schüler im Unterricht reagiert und wo Verbesserungen möglich sind. Ich sensibilisiere auf allen Seiten, was ein sehbehinderter Schüler braucht, aber auch, was er zu leisten fähig ist. Wo braucht es spezielle Lösungen und wo darf er auch gefordert werden. Dies ist nicht selten ein gegenseitiges Aushandeln und Vermitteln. Auch dass der sehbehinderte Schüler den geplanten Schulstoff im Voraus kennen muss, spreche ich an.
Was gibt es speziell zu erwähnen im Fall von Sascha Feldmann?
Die Zusammenarbeit mit der WKS Bern (insbesondere mit den Lehrpersonen) ist beispielhaft. Die Schulleitung steht seit Beginn voll hinter uns und ist sehr hilfsbereit. Auch das Zusammenspiel mit allen involvierten Fachstellen – speziell der Invalidenversicherung (IV) – ergibt ein einzigartiges Netzwerk, worauf wir stolz sein können.
Fotos: Michael Fritschi